Kinder streiten sich öffentlich bei Facebook, Beziehungskrisen werden bei Twitter ausgetragen, Jugendliche blamieren sich mit albernen Videos bei YouTube. Auch ich bin in all diesen Portalen vertreten. Auch ich poste in Wort, Bild und Video Dinge, die mit mir zu tun haben. Aber ich bin auch Journalist, habe für BILD, BamS und Glotze gearbeitet. Ich kann mit Öffentlichkeit umgehen. Woran liegt es, dass viele Kids – und auch junggebliebene Social-Media-Enthusiasten – kein Fingerspitzengefühl für ihre Selbstdarstellung entwickeln? Ich sprach mit Psychologe Dr. Arnd Stein aus Iserlohn darüber: Warum gehen junge Generationen so lax mit ihrer Privatsphäre um?
Dr. Arnd Stein: Zunächst einmal: Der Mensch hat einen angeborenen Neugiertrieb. Früher schaute man aus dem Fenster oder erfuhr den neuesten Klatsch in persönlichen Gesprächen, heute klickt man sich in soziale Netzwerke und weiß sofort, was der Nachbar macht. Der Voyeurtrieb hat sich also auf die digitalen Medien verlagert. Hinzu kommt, dass jeder Mensch auch das Bedürfnis hat, wichtig zu sein. Die Castingshows im Fernsehen machen es vor – jeder kann Star werden. Diese vermeintliche Chance macht Websites wie das Videoportal YouTube so erfolgreich. Ein eigenes weltweit verfügbares Video vermittelt das schöne Gefühl „Ich bin wichtig“.
Das klingt nach einem gewissen Suchtpotenzial …
Dr. Stein: Absolut! Das Internet ist – das kennen wir von anderen nichtstofflichen Süchten – wie ein Belohnungssystem: Man bekommt blitzschnell Infos über zahllose, auch prominente Menschen. Und davon wollen viele Internetnutzer immer schneller immer mehr. Dieses Bedürfnis nach einer „Steigerung der Dosis“ kann sich leicht zu einer Sucht entwickeln. Aber auch die Selbstdarstellung ist mit dem Internet viel einfacher geworden. Die Anzahl der Klicks auf die eigene Website oder auf selbstgedrehte YouTube-Videos ist vergleichbar mit der Phonstärke des Applauses auf realen Bühnen.
Ist das ein neuer Exhibitionismus?
Dr. Stein: Durchaus. Ich halte die PC-Generation schon für recht kommunikationssüchtig und auch exhibitionistisch. Das ist in dieser extremen Ausprägung tatsächlich neu. Denn früher musste man zum Beispiel in der Laientheatertruppe der Schule auf die Bühne steigen, um sich zu produzieren. Das war viel aufwendiger, aber es gab auch ein direktes Feedback zur eigenen Leistung. All das fällt heute weg, wenn man zu Hause die Webcam anschaltet. Da flimmert man bereits über die weltweite digitale Bühne, noch bevor jemand diesen Auftritt überprüft und vielleicht auch vor Peinlichkeiten gewarnt hat. Außerdem fehlt die direkte Interaktion mit einem echten Publikum.
Junge Menschen gehen viel unbefangener, zum Teil leichtfertig mit der eigenen Person im Netz um. Woran liegt das?
Dr. Stein: Die Jugend ist nicht etwa naiver oder dümmer als die ältere Generation. Sie wird nur mit zahlreichen neuen Möglichkeiten konfrontiert, die sie nur noch schwer kontrollieren kann. Das können ihnen ältere Menschen auch kaum vermitteln – sie sind ja nicht mit Facebook oder StudiVZ aufgewachsen. Gerade weil die Eltern oft überfordert und hilflos sind, gehört Medienerziehung heute unbedingt auf die Lehrpläne in Schulen!
Also Aufklärung statt Verbote?
Dr. Stein: Ganz genau. Das ist umso wichtiger, weil das Internet inzwischen – auch über Handy – universell verfügbar ist. Es berührt fast alle Lebensbereiche – als private Showbühne ebenso wie als schier unbegrenzte Info-Quelle, von wertvollem Wissen bis hin zu „Sex and Crime“. Ein Verbot macht also keinen Sinn, weil undurchführbar. Als Kinderpsychologe finde ich es besonders schlimm, dass sich auch Kinder im Internet harte Pornographie ansehen können, noch bevor sie ihren ersten Kuss erlebt haben. Das kann die Entwicklung ihrer Gefühlswelt und die Ausbildung moralischer Werte beeinträchtigen, zudem auch Hemmschwellen senken – wie im jüngsten Missbrauchsfall zwischen Kindern und Jugendlichen bereits in erschreckender Weise erkennbar.
Wie halten Sie es selbst mit privaten Infos im Internet?
Dr. Stein: Es liegt an jedem selbst, was er preisgibt. Ich selbst werde – vor allem durch meine Tätigkeit als Autor – über meinen Namen oder meine Bücher und CDs im Netz gefunden. Privates habe ich aber nie veröffentlicht. Und das bleibt auch so.
Mehr Infos zu Dr. Stein und seiner psychologischen Arbeit: http://www.vtm-stein.de
Fotos:
Michael Dunker
Georg Lukas, Essen
Ich bin 26 und gehe absolut verschwenderisch mit meinen Daten im öffentlichen Netz um. Siehst du ja, an dem Kommentar. 😉
Allerdings kann ich durchaus mit Kritik leben, bin ich doch Blogger. 😉
Mit Selbstdarstellung und Showbühne kann ich jedoch nicht so viel anfangen. In meinen bei YouTube verfügbaren Videos stehe ich hinter und nicht vor der Kamera. Das wäre mir auch vor 10 Jahren, hätte es YouTube in dieser Form da schon gegeben, nicht eingefallen. Wäre vermutlich auch ziemlich peinlich geworden. 😉
Und persönliche Daten… Nun, solange sensible Daten wie Größe gewisser Körperteile, Bankdaten, etc. nicht dazugehören, sehe ich da kein Problem. Post-Privacy eben. 😉 Durchaus nachvollziehen kann ich aber, dass Kinder und Jugendliche vielleicht gar nicht mehr wissen, welche Daten überhaupt als sensibel zu bezeichnen sind.
Im Grunde gehört den Kids in der Schule genau eins beigebracht: Nehmt das Internet nicht so ernst, es ist das Internet. 😉 Zumindest im Zusammenhang mit Social Media und beispielsweise Mobbing.
Übrigens finde ich den Post etwas einseitig geschrieben. Ich meine, du stellst ein paar Fragen und lässt Herrn Stein alles beantworten. Durchaus gängige Praxis und nichts dagegen einzuwenden, nur eine persönliche Meinung oder ein paar zusätzliche Informationen hätte ich nett gefunden. 🙂
Ansonsten: Wir sehen uns in meinem Feedreader. 😉
Hi Tom,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich fürchte angesichts meiner vielen Dutzend Social-Media-Profile, Du gehst nicht halb so verschwenderisch mit Deinen Daten um wie ich. 😉 Die Kritik des Interviews steckt auch weniger im Bloggen (http://www.nikkiundmichi.de) oder Youtuben (http://www.youtube.com/user/nikkiundmichi) als solches, sondern eben genau in der fehlenden medialen Ausbildung der Teens. Was Du ja auch bestätigst.
Einseitig: Da bin ich vielleicht doch eher klassischer Journalist. Es handelt sich hier um die journalistische Darstellungsform Interview. Nicht um ein Meinungsstück von mir.
Allerdings kommt Dr. Arnd Stein meiner Meinung sehr nahe: Es ist verantwortungslos von Eltern, Ihre Kinder auf der virtuellen Showbühne allein performen zu lassen. Andererseits sind die Eltern eben „Digital Immigrants“ und keine Natives. Sie sind ebenso wenig in medialer Selbstdarstellung geübt wie ihr Nachwuchs. Bleiben nur zwei Auswege: Eltern müssen dringend digitale Nachhilfestunden nehmen. Und die Schule sollte Kids bei der Hand nehmen und das öffentlich gesprochene Wort und seine Folgen lehren.
Denn heute kann jeder mit wenigen Mausklicks Journalist (Definition des DJV: „hauptberuflich an der Verbreitung und Veröffentlichung von Informationen, Meinungen und Unterhaltung durch Massenmedien beteiligt“) sein. Mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten und Fettnäpfchen.